Lk 3,1-6
08.10.2024
Liebe Schwestern und Brüder!
1. Feierlich und spannungsgeladen hebt das heutige Evangelium an: „Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus Tetrarch von Ituräa und Trachonitis, Lysanias Tetrarch von Abilene; Hohepriester waren Hannas und Kajaphas.“ Eine Zeitangabe, die deshalb hier so präzise erwähnt wird, weil sich da etwas ereignete. Wir können aus der Zeitangabe präzise schließen auf die Zeit vom 19. August 28 bis zum 19. August 29. In diesem Zeitraum hat sich etwas ereignet. Sie spüren, wie hier Spannung aufgebaut wird. Man fiebert förmlich dem Ende der Zeitangaben entgegen, um zu erfahren, was sich da ereignet hat. Und dann endlich kommt es: „Da, in diesem Zeitraum erging das Wort des Herrn an Johannes, dem Sohn des Zacharias. Und er zog in die Gegend am Jordan und verkündigte dort überall Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden.“ Es geht um Johannes den Täufer und um seine Taufe, die er als Taufe der Umkehr anbot. Diese scheint für das Lukasevangelium von großer Bedeutung zu sein, weshalb er diese Taufe so feierlich ankündigte. Und wir stellen fest: Wir haben im Johannesevangelium einen ähnlichen Befund. Das steht zwar zu Beginn der berühmte Johannes-Prolog: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“. Ein Prolog wie eine Ouvertüre, die musikalisch die Themen der folgenden Oper vorwegnimmt. So nimmt der Prolog vorweg, was nun im weiteren Evangelium sich entfaltet. Und tatsächlich: Gleich nach dem Prolog wird auch hier von Johannes dem Täufer berichtet und der Taufe Jesu. Und dann schauen wir in das Markusevangelium und stellen überrascht fest: Das beginnt überhaupt erst mit der Taufe: Keine Verkündigung des Engels an Maria, keine Jungfrauengeburt, keine Krippe, keine Herbergssuche, sondern gleich von Anfang an die Taufe Jesu. Das verstärkt den Eindruck, den man beim heutigen Evangelium bekommen hat: Die feierliche Zeitangabe zu Beginn will etwas Wichtiges einleiten und Spannung und Neugier erzeugen. Was mag es wohl mit der Taufe Jesu auf sich haben, dass sie so prominent in den Evangelien markiert ist.
2. Machen wir eine Zeitreise in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert, also so ab den 70er Jahren. Da begannen wir in der Kirche davon zu reden, dass die Volkskirche zu Ende geht. Mit Volkskirche war ein religiöses und kulturelles Milieu gemeint, in das man hineinwuchs und das einen prägte, so dass die religiösen Gepflogenheiten selbstverständlich waren. Man hatte sie übernommen, gelernt und sich angeeignet. Je mehr nun dieses religiöse Milieu wegbrach, desto weniger Menschen kamen nun mit Religion in Berührung. So konnten sich die Menschen das Religiöse nicht aneignen, weil sie es nicht mehr vorfanden. In diese Zeit des Wegbruchs der Frömmigkeit sagte Karl Rahner 1966 in einem Aufsatz jenen Epoche prägenden Satz, den ich hier im Zusammenhang zitiere: Es bedarf „freilich mehr als einer rationalen Stellungnahme zur theoretischen Gottesfrage und einer bloß doktrinären Entgegennahme der christlichen Lehre. Es bedarf einer Mystagogie (vom Glauben geprägte Einführung) in die religiöse Erfahrung, von der ja viele meinen, sie könnten sie nicht in sich entdecken, einer Mystagogie, die so vermittelt werden muss, dass einer sein eigener Mystagoge werden kann. Nur um deutlich zu machen, was gemeint ist, und im Wissen um die Belastung des Begriffs „Mystik“: Der Fromme von morgen wird ein „Mystiker“ sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Rahner ahnte schon 1966 den Wegbruch der Volkskirche und sagte deshalb, dass es nicht genügt, einfach nur den Glauben doktrinär entgegenzunehmen, sondern der Christ der Zukunft ist ein Mystiker, einer der etwas erfahren hat. Rahner schreibt nicht: „einer, der Gott erfahren hat“, sondern „einer, der etwas erfahren hat.“ „Erfahren“ ganz wörtlich genommen: Herumgefahren ist, vielleiht auch zu verstehen im Herumkommen durch die Welt, aber vor allem zu verstehen als die große Reise durch Höhen und Tiefen, Längen und Weiten des Weiten des Lebens. Diese geistige und geistliche Reise, die uns große Erfahrungen schenkt. Da es, so sagt Rahner, um mystische Erfahrungen geht, heißt, dass der Mensch in der Reise seines Lebens Erfahrungen sammelt, die in ihm unwillkürliche immer wieder mit der Gottesfrage in Verbindung bringen könnte: Ist das alles, was wir hier erleben? Sind wir wirklich nur auf uns selbst zurückgeworfen? Gibt es wirklich nichts, was unendlich größer ist als wir selbst? Bin ich wirklich nur ein Produkt des Zufalls oder steht hinter allem Leben ein göttlicher Wille? Bin ich geliebt, nicht nur in einem Zeitraum zwischen Geburt und Tod, sondern so, dass meine Existenz in einer größeren Liebe geborgen ist, die mich zum Kind Gottes macht? Ist nicht die Schöpfung mit all ihrer Schönheit auch ein Symbol für etwas Größeres? Solche Fragen, die sich den Lebenserfahrenen stellen können, nennt Rahner Mystik. Das heißt: Der Glaube wird nicht mehr volkskirchlich in einem religiösen Milieu vermittelt, sondern durch eigene Erfahrungen des Lebens, die mich auf Gott hin öffnen können, so dass ich meinen Glauben aufgrund meiner Erfahrungen begründen kann. Das, so Rahner, ist der Christ der Zukunft.
3. So, nach diesem Ausflug in die heutige Zeit kehren wir zurück zum Evangelium: Die Ankündigung der Taufe Jesu. Wir finden laut den Zeitangaben Jesus um das Jahr 28/29 plötzlich in der Wüste bei Johannes und lässt sich von ihm taufen. Was ist da wohl passiert? Warum verlässt Jesus sein Elternhaus und seine Heimat Nazareth begibt sich zu Johannes in die Wüste? Letztlich wissen wir es nicht. Es gibt da verschiedene Deutungen. Aber das Markusevangelium schenkt uns hier eine aufschlussreiche und überraschende Randbemerkung. Nachdem Jesus sich eine Schar Jünger zugelegt hatte, die ihm folgen und seine Ideen teilen, (ich sage das hier mal bewusst etwas despektierlich), suchen seine Verwandten Jesus auf, um ihn mit Gewalt (!) zurückzuholen, denn sie sagten: „Er ist von Sinnen“, also wohl völlig übergeschnappt. (Mk 3,20). Und als später seine Mutter und seine Brüder ihn aufsuchen, wurde Jesus gemeldet: „Da draußen stehen deine Mutter und deine Brüder.“ Und Jesus verleugnet seine irdische Familie und betont seine neue, geistliche Familie: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Die hier, die den Willen Gottes tun, sind mir Mutter, Bruder und Schwester.“ Das klingt so, als habe es zu Hause einen Bruch gegeben, weshalb Jesus sein Elternhaus und seine Familie und Heimat verließ und einen Neuanfang suchte.
4. Und Johannes der Täufer, der ja in aller Munde war, bot durch seine Taufe der Umkehr einen solchen Neuanfang an. Durchaus denkbar, dass Jesus in sich etwas spürte, was in der Enge der Familie mit ihren Konventionen, ihrem religiösen Milieu, nicht zum Durchbruch kam. Er musste raus, um dem nachzugehen, was in ihm zu wachsen schien. So kam er zur Taufe und es geschah: Der Himmel öffnete sich, der Geist Gottes, also die Liebe Gottes, kam auf ihn herab und er erfuhr, dass er der geliebte Sohn ist, an dem Gott Wohlgefallen gefunden hat.“ Im Sinne von Karl Rahner eine tiefe mystische Erfahrung: Es gibt Größeres als wir selbst („Der Himmel öffnete sich“) und ich bin mehr als ich je von mir denken kann („Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe“). Deshalb bekommt die Taufe Jesu eine solche feierliche Ankündigung im Lukasevangelium.
5. Es geht also darum, Räume zu eröffnen, die es möglich machen, dass Gott als der, der auf die Menschen zukommt, erfahrbar wird. Einen solchen Raum eröffnete Johannes mit seiner Taufe zur Umkehr und Vergebung. Der Apostel Paulus hatte einen ähnlichen Gedanken. Es fällt auf, dass Paulus bestrebt war, in den großen Städten der damaligen Zeit christliche Gemeinden zu gründen: Ephesus, Thessaloniki, Korinth, Athen, Rom usw. Er wollte nicht, dass sich ganze Städte zum Christentum bekehrten (dass ist erst ein späterer Missionsgedanken, der auch Schlimmes hervorbrachte), sondern Paulus wollte, dass es in jeder Stadt eine christliche Gemeinde gibt, damit in dieser Stadt durch das Miteinander der Christen das Leben Jesu sichtbar und erfahrbar wurde. Er wollte einen Raum in jeder Stadt gründen, in dem die Menschen eine Christuserfahrung machen konnten. Übersetzt heißt das: Wenn wir schon im Advent sind: Der auf den Menschen zukommende Gott, der sich dem Menschen hingebende und schenkende Gott braucht auch Räume, in dem die Menschen Gott begegnen können. Solche Räume kann es viele geben. Aber ist nicht ein solcher Raum auch eine Kirche und eine kirchliche Gemeinde? So wie Paulus es wollte, dass es in jeder Stadt christliche Gemeinde geben sollten? Wenn der Christ der Zukunft jemand ist, der etwas erfahren hat, das ihn auf die Spur Gottes bringt, dann braucht es Erfahrungsorte. Johannes mit seiner Taufe hat einen solchen Erfahrungsort geschaffen, Paulus mit der Gründung von Gemeinden in den großen Städten der damaligen Zeit. Versuchen wir ein Ort zu sein, wo der auf uns zukommende Gott lebendig gegenwärtig erfahrbar wird. Advent. Ankunft des Herrn.
Franz Langstein