St. Johannes Evangelist, Kugelkirche
Predigt am 6. Sonntag der Osterzeit C 2022
Liebe Schwestern und Brüder!
- Wir hörten eben einen Ausschnitt aus der
sogenannten Abschiedsrede Jesu. Diese Abschiedsrede hat Johannes d. Ev. im
Abendmahlssaal platziert, also ein Tag vor dem Tod Jesu. Diese Abschiedsrede
ist so angelegt, dass sie eine einzige Meditation über das Geheimnis Jesu
darstellen und somit, und das macht sie so interessant für uns, auch eine
Mediation über das Geheimnis des Menschen im Angesicht Gottes. Ich möchte
zuerst nur einen Satz herausgreifen, von dem aus aber ein Licht auf alles
andere fällt. Und vielleicht wird dann deutlicher, wenn ich sage, dass,
wer das Geheimnis Christi betrachtet, auch das Geheimnis des Menschen
betrachtet.
- Der Satz, den ich zuerst herausgreife,
lautet: „Wenn ihr mich lieb hättet, würdet ihr euch freuen, dass ich zum
Vater gehe.“ Jesus begreift, so könnte man meinen, seinen Tod als Hinübergang
zum Vater. Wenn er gestorben sein wird, dann ist er zu seinem Vater
heimgekehrt. Aber warum soll man den Satz nur auf das Sterben beziehen?
Ist nicht der ganze Lebensweg Christi ein Weg zum Vater? Angefangen von
der Geburt, die Ereignisse seiner Kindheit, die Überzeugung, sein altes Leben
mit Beruf und Familie zurückzulassen, sich von Johannes taufen zu lassen,
das Fasten in der Wüste, seine Wanderungen mit seinen Jüngern durch
Galiläa, seine Worte und Taten, all seine Erlebnisse und schließlich sein
Sterben: Ist das nicht ein einziger Lebensweg, von der Geburt bis zum Tod,
der überschrieben werden muss als „Heimgang zu Vater“?
- Und dürfen wir dann unser Leben nicht
genauso begreifen? Von Anfang an bis zum Ende unseres Lebens sind wir auf
dem Heimweg zum Vater, auf dem Weg zu Gott. Die christliche Tradition umschreibt
das Leben auch als „Pilgerschaft“. Pilgern heißt: Unterwegs sein zu einem
Heiligtum. Aber was heißt das genauer, wenn wir unser Leben beschreiben
als einen Heimweg zu Gott?
- Ich
habe das vor längerer Zeit einmal erlebt, als ich bei einem Menschen war,
der sich seines nahen Todes gewiss war und der zu mir sagte: „Wir alle
tragen ein göttliches Leben in uns, das Leben der Gotteskindschaft. Wir
sind eben nicht nur Kinder der Erde, sondern auch Gottes Kinder. Wir
tragen ein Leben in uns, dass sich einem göttlichen Ursprung verdankt. So
gesehen haben unsere Mütter uns alle „jungfräulich“ geboren, weil das, was
in uns als göttliches Leben angelegt ist, nicht Werk von Menschen ist. Und
dieses göttliche Leben wächst der Ewigkeit entgegen, muss also reifen. Und
alles, was uns im Leben widerfährt, dient dazu, dieses göttliche Leben zur
Reife zu bringen bis zum Tag der Ernte, den Tag des Todes. Wie wir in Geduld
und Liebe unser Leben annehmen und tragen und manchmal ertragen. Wie wir
die Freuden und Schicksale des Lebens annehmen. Auch die Schuld hilft uns,
das göttliche Leben zur Reife zu bringen. Schuld macht barmherziger, liebevoller,
lässt uns etwas ahnen von der Barmherzigkeit Gottes. Wie wir mit anderen
Menschen umgehen und umgegangen sind – das alles und noch viel mehr und
unser ganzes Leben ist ein Reifeprozess für die Ewigkeit. Auch Sterben und
Tod.“ Mir hat dieser Mensch eine ganz neue Sicht auf mein eigenes Leben
eröffnet. Alles ist Reifeprozess des göttlichen Lebens in uns, ist Heimgang
zum Vater, ist Werden zum Gott hin.
- Und
damit wird bestätigt, was Johannes in seinem Evangelium heute ganz zu Anfang
gesagt hat: „Jesus sprach: Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort
festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und
bei ihm wohnen.“ Ja, wir sind Wohnung Gottes, tragen dieses göttliche Leben
in uns, sind Monstranz Gottes. Bei einer Taufe sagte mal ein Pfarrer über
das neu geborene Kind: „Schön, dass dieses Kind geboren wurde, somit hat
Gott einen weiteren Platz auf Erden.“ Jeder von uns ist ein Platz Gottes
auf Erden. Wir müssen das nicht vor uns her posaunen, denn wir sind es.
- Und
so gilt es, in der liebenden Annahme unseres eigenen Lebens mitsamt seinen
schönen Erfahrungen und seinen leidvollen Widerfahrnissen dieses göttliche
Leben in uns zur Reife zu bringen, denn wir sind unterwegs auf dem Heimweg
zum Vater. Und hat Christus nicht auch sein Kreuz am Ende getragen in
einem allerletzten tiefen Vertrauen? Wer das Geheimnis Christi betrachtet,
betrachtet immer auch das Geheimnis eines jeden Menschen. Und im Tod schauen
wir nicht nur Christus, sondern in ihm wie in einem Spiegel unser
ureigenstes Wesen. Unfassbar staunend und glücklich.