Predigt am 4. Sonntag der Osterzeit B24 
                                                                                        Joh 10,11-18             

21.04.2024

Liebe Schwestern und Brüder!

  1. Heute ist der sogenannte „Gute-Hirte-Sonntag“. Es ist uns ein vertrautes Bild, das uns an diesem Sonntag vorgelegt wird: Der gute Hirt, der sich um seine Herde sorgt. Mit dem „guten Hirten“ ist ja zunächst einmal Jesus selbst gemeint: „Ich bin der gute Hirt, ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich“. Und dieses Bild wurde nun übertragen auf jeden Pfarrer, der die Hirtensorge für die Seinen hat. Und dann ist man ganz schnell bei folgendem Modell: Der Pfarrer ist der gute Hirt. Die Gemeinde ist seine Herde. Wenn jemand die Gemeinde verlässt oder gar aus der Kirche austritt, ist diese Person ein verlorenes Schaf, dem der gute Hirt, also der Pfarrer, nachzugehen hat und ihn wieder zurück zur Herde führen muss. Dieses Denkmodell hat ganze Generationen geprägt, ganze Pfarrergenerationen haben sich so verstanden und haben sich in ihrer Hirtensorge verzehrt. Ich meine das durchaus auch im positiven Sinn. Aber es gab auch Gefahren: Schon allein die Vorstellung, da sei jemand verloren, hat so manchen Hirten schlaflose Nächte bereitet, weil er für dieses Verlorensein die Verantwortung auf sich genommen hat. Es ist nicht lange her, da hat einmal ein Pfarrer seinen Jugendlichen erklärt: „Ich bin euer Hirte. Wenn ihr sonntags nicht in die Kirche kommt, muss ich vor Gott einmal dafür Rechenschaft ablegen.“ Dieser Pfarrer hat nach wenigen Jahren wegen Überforderung seinen Dienst quittieren müssen. „Ich bin der gute Hirt, ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich“: Das ist in den heutigen Großgemeinden mit 15.000 Katholiken, auf die wir auch hier in Marburg zusteuern, gar nicht mehr möglich. Aber einmal ganz davon, ist dieses Bild heute aus mehreren Gründen höchst problematisch.
  1. Die Gemeinde bildet also die Herde. Sie sind die Schafe. Wollen Sie das sein? Sich kuschelnde Schafe, die alles vorgesetzt kriegen und nur auf den Hirten zu hören brauchen? Konsumierende Schafe, die sich in eigener Wärme wohlfühlen wollen? Dieses Bild passt nicht mehr. Wir reden heute vom mündigen Menschen. Wir gehen von einem Menschenbild aus, das Selbstverantwortung und Freiheit miteinschließt. Wenn jemand aus der Kirche austritt, dann ist dafür erst einmal derjenige selbst verantwortlich. Es ist seine Entscheidung, auch wenn er schlechte Erfahrung mit der Kirche oder mit einem Pfarrer gemacht hat: Es bleibt trotzdem für seinen Schritt verantwortlich. Und wenn er diesen Schritt wohlbedacht macht, in Eigenverantwortung, warum gilt er dann als „verlorenes“ Schaf, das unbedingt wieder zurückgeholt werden muss? Was heißt in diesem Zusammenhang „verloren“? Verdammt? Kann vielleicht nicht eine so selbstverantwortete Entscheidung nötig sein für jemanden, der sich aus einem von Kindheit an anerzogenen engen Gottesbild befreien muss? Reden wir da nicht zu vorschnell von „verloren“?
  1. Und nun schauen wir mal auf Jesus, den „guten Hirten“ schlechthin. Was war seine Sorge? Menschen, die nicht mehr in den Synagogengottesdienst kamen, hinterherzulaufen und ihnen zu sagen: Kommt am Sabbat wieder zum Gottesdienst? Dergleichen ist uns nicht überliefert. Aber es ist uns überliefert, dass Jesus den wirklich Verlorenen nachgegangen ist: Den Kranken, den Sündern, den Ausgegrenzten, den Unreinen, den vor Gott Armen, den Trauernden, denen, die man nicht richtig leben durften; also den wirklich Verlorenen, die ihr Leben verloren hatten, weil sie es nicht leben durften, die keine selbstverantwortliche Entscheidung über Leben treffen können, weil andere über sie entscheiden.
  1. Das ist die Aufgabe des guten Hirten: Diese Menschen zum Leben zu führen, zur Fülle des Lebens, zur Verwirklichung ihres Lebens. Da ist ein Mensch geboren, hat alle Möglichkeiten seines Lebens noch offen vor sich liegen, ist hineingeboren in eine an sich wunderbare Schöpfung, hineingeboren eigentlich in eine gute Gemeinschaft, aber ein solcher Mensch kann sein Leben nicht verwirklichen, weil es so viele Gründe gibt, die ihn daran hindern. Schade, dass dieses so einmalige Leben dann verkümmert und in diesem Sinn verloren ist. Das tut dem guten Hirten weh, sehr weh! Deshalb ist er bei ihnen zu finden, nicht bei den Kirchenausgetretenen. Der gute Hirt ist deshalb zuallererst einmal ein guter Mensch, der sensibel ist für die Nöte anderer, der Mitleid empfinden am Leiden anderer, der betroffen ist, wenn er sieht, dass andere ihr Leben nicht verwirklichen können. So war Jesus. Und jeder von uns kann deshalb guter Hirt sein.

      

      Franz Langstein