Predigt am 33. Sonntag C25

Lk 21,5-19

16.11.2025

Liebe Schwestern und Brüder!

1. Um die Dramatik, die uns das heutige Evangelium schildert, besser nachvollziehen zu können, müssen wir wissen, dass die Evangelisten auch – mal mehr, mal weniger - Zeugen ihrer Zeit sind. So schildert uns das heutige Evangelium die Zeit um das Jahr 90 nach Christus herum. In dieser Zeit hat Lukas sein Evangelium geschrieben. Er schildert sehr genau die Nöte und Ängste, die die Menschen damals bewegten und in Unruhe versetzten.

2. Er beginnt mit einem Rückblick: „Einige Leute sprachen darüber, dass der Tempel mit schönen Steinen und Weihegeschenken geschmückt sei.“ Es ist eine Erinnerung an das Wunderbauwerk, den Jerusalemer Tempel, dessen Größe und Herrlichkeit die Menschen damals stark beeindruckte. Gleichzeitig war dieser Tempel religiös von großer Bedeutung. Er war der Ort Gottes, der Ort, in dem Gott Opfer dargebracht wurden, Gottesdienste stattfanden. Und die Herrlichkeit des Tempels ließ durchaus das Gefühl aufkommen, dass das der Ort der Gegenwart der Herrlichkeit Gottes sei. Auch die Juden, die Christen geworden waren, beteten noch im Tempel. Der Tempel war für sie ein Ort – immer der gleiche Ort – ein Moment der Kontinuität. Er ist ein Zeichen der Gewissheit, dass Gott handelt und sich selbst treu bleibt. Dieser Ort verweist auf die Wurzeln in der Vergangenheit. Er war deshalb auch für sie ein Ort der Identität als Volk Gottes. Daran erinnert Lukas im heutigen Evangelium zunächst. Was für ein prachtvoller Ort, was für ein bedeutungsschwangerer Ort.

3. Nach diesem ersten Blick in die Vergangenheit, bleibt Lukas zunächst in der Vergangenheit. Denn vor etwa 20 Jahren hatte sich etwas ereignet. Der Tempel wurde durch die Römer vollkommen zerstört. Die Pracht und Herrlichkeit waren dahin. „Es wird eine Zeit kommen, da wird von allem, was ihr hier seht, kein Stein auf dem andern bleiben; alles wird niedergerissen werden.“ Wir können uns diese Katastrophe nicht schlimm genug vorstellen. Auch religiös: Der Ort Gottes war der Willkür menschlichen Hasses und der Gewalt ausgeliefert. Der Ort Gottes wurde vernichtet, so als wäre Gott selbst vernichtet worden. Wie kann so etwas sein? Der Ort, der mit dem Glauben an Gott verbunden war, war vernichtet. Der Glaube an die Macht und Treue Gottes geriet in eine Tiefe Krise.

4. Darauf blickt das Lukasevangelium zurück: Auf die Herrlichkeit des Tempels und dessen Zerstörung und die damit einhergehenden Krisen, Ängste und Zweifel. Und genau auf diese Ängste und Zweifel will nun Lukas eingehen und darauf eine Antwort finden. Zunächst schildert er, was in solchen Krisensituationen immer passiert: Scharlatane nutzen sie aus für ihre Zwecke: „Gebt acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten. Folgt ihnen nicht nach“. Er schildert die brutalen Kriegsereignisse, die die Menschen erleben mussten und deren Folgen: „Schreckliche Dinge werden geschehen, an vielen Orten wird es Seuchen und Hungersnöte geben.“ „Und man wird euch verfolgen, festnehmen, vor die Gerichte zerren.“ Christsein war gefährlich. Das alles erlebte Lukas und erlebten die Menschen damals. Für den Glauben an Gott war dies eine tiefe Krise.

5. Und nun sind interessant die Mahnungen, die Lukas inmitten dieser Zeit den Christen geben will: Lauft den Scharlatanen nicht nach. Wenn ihr von den Kriegen hört, lasst euch nicht erschrecken. Und wenn man euch ins Gefängnis wirft, sorgt euch nicht um eure Verteidigung. Es wird euch eingegeben, was ihr sagen sollt. Also reagiert nicht mit Angst, mit Schrecken oder Panik! Lukas ermahnt seine Gemeinde zu, (ja, wie soll man das nennen?) Sorglosigkeit, Gelassenheit, Vertrauen? Mitten in dieser angstvollen und unruhigen Zeiten?

6. Kann man das? Kann man auch in der heutigen Zeit, in der sich nicht wenige Menschen Sorgen machen, oder in der nicht wenige Menschen Ängste haben, sagen: Macht euch keine Sorgen, bleibt gelassen? Kann man, ja sollte man eine solche Botschaft heute sagen? Oder anders gefragt, was wäre der Grund, was wäre die Basis für eine solche Botschaft der Gelassenheit?

7. Der Grund wird in einem kleinen, aber provokanten, Satz gesagt. In all dem, was ihr an Schrecken, Kriegen, Untergängen, Verhaftungen erlebt: „Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden“. Wie kann das Lukasevangelium so etwas berichten? Das will ich noch kurz beleuchten. Es gibt im Griechischen, und die Bibel hat das übernommen, zwei Zeitverständnisse. Das eine Verständnis ist „Chronos“, die Chronologie, die Abfolge der Zeit von Anfang bis zum Ende, das Aufzählen der Ereignisse in der Zeit. Diese Zeit hat eine Richtung: Aus der Vergangenheit in die Zukunft. So verstehen wir im Zeitalter der Uhren, der Chronometer, die Zeit. Sie ist messbar und auf Jahr, Datum, Stunde, Minute und Sekunde festlegbar. Diese Zeit erscheint wie eine Abfolge von Ereignissen, scheinbar zufällig und ohne Sinn. Das macht Angst, weil diese Zeit abläuft, ohne immer kontrollbar zu sein, besonders wenn die Zeit auf den Tod, auf das Ende zuläuft. „Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, das muss als erstes geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort.“ Das ist Chronologie.

8. Aber es gibt einen zweiten Zeitbegriff; man nennt ihn „Kairos“. Dieses Verständnis von Zeit hat keine Richtung aus der Vergangenheit in die Zukunft, sondern meint den Augenblick. Der Augenblick ist die entscheidende Zeit, die sinnerfüllte Zeit. Im christlichen Sinn: Die Geschichte, die Chronologie, hat kein Ziel, sondern sie empfängt ihr Ziel und ihren Sinn durch Christus. Gott hat sich in die Zeit selbst hineinbegeben, so dass jeder Zeitpunkt ein Zeitpunkt der Gegenwart Gottes ist. Die Chronologie mit all ihren Ereignissen von Anfang bis zum Ende ist schon längst aufgehoben und eingeholt und erfüllt durch den Kairos, die Gegenwart Gottes. Gerade an den zentralen Punkten des Daseins, und deshalb gerade auch am Ende, offenbart sich, dass die Zeit Kairos ist, der rechte Augenblick, die Offenbarung eines tieferen Sinns. Das ist die christliche Botschaft. Wer ganz und gar von ihr erfüllt ist, kann dem Wort trauen: „Es wird euch kein Haar gekrümmt werden“. Das ist das, was Lukas den verängstigten Menschen sagen möchte und auch uns gesagt werden muss.

Franz Langstein